Mittwoch, 30. Juni 2010

Viva el presidente

Die Auszählung läuft zwar noch, aber ich wage einmal die Voraussage: Wulff ist der nächste Bundespräsident. Zeit, um mit einigen Missverständnissen aufzuräumen:

Erstes Missverständnis: Es ging um Wulff oder Gauck.

Nein, es ging um ein strategisches Gemetzel. SPD und Grüne haben einen großartigen Coup gelandet, indem sie erstens einen Kandidaten aufstellten, bei dem die wenigen selbstständigen Denker im Unionslager den Kopf gegen die Wand hämmerten und sich fragten, warum sie nicht selbst auf diese Idee kamen und gleichzeitig jemanden präsentierten, der für die "Linke" vollkommen inakzeptabel ist. So konnten sie die Union vorführen und gleichzeitig sicher stellen, dass ihrem Kandidat, sollte der unwahrscheinliche Fall eintreten und er gewählt werden, nicht der Makel anhaftet, mit den Stimmen der ungeliebten Konkurrenz ins Amt gehoben worden zu sein. Doch stellen wir uns für einen Moment vor, was passiert wäre, hätte die CDU von Anfang an Gauck aufgestellt. Hätte die SPD auf einen eigenen Kandidaten verzichtet?

Natürlich nicht. Die CDU hätte Ferdinand Lasalle aus dem Hut zaubern können, und die SPD hätte ihn nicht gewählt. Es geht nur darum, herauszufinden, wie gut Merkel ihre Entscheidungen noch durchsetzen kann. Wäre Wulff gescheitert, hätte dies das politische Ende Merkels sowie Neuwahlen bedeutet, und wegen des aktuellen Formtiefs der blaugelben Parteiensimulation wäre der Fortbestand der Koalition zumindest äußerst fraglich gewesen. So weit lässt es natürlich kein CDU-Anhänger kommen, denn noch weniger als Angela Merkel behagt ihren parteiinternen Gegnern der Gedanke, wieder eine Legislaturperiode auf der Oppositionsbank sitzen zu müssen.

Kurz: Hut ab vor dem brillianten Schachzug der SPD, Watschen an alle Parteien, die das höchste Amt dieses Landes für ihre provinziellen Machtspielchen missbrauchen. Wenn der höchste Repräsentant der Bundesrepublik etwas braucht, dann ist es Achtung und Würde - also genau das, was ihm durch dieses Schmierentheater versagt wird.

Zweites Missverständnis: Es kommt darauf an, wer Bundespräsident ist.

Dieses Land hat in seiner Geschichte mehrfach bewiesen, dass es zur Not auch ein paar Jahre ohne Bundespräsident auskommt. Geben wir uns keinen Illusionen hin: Der Amtsinhaber muss vor allem eine gute Schau abliefern: Fähren taufen, Ausstellungen eröffnen, ein schönes Sommerfest geben sowie ab und zu auf dem internationalen Parkett ein paar nette Worte sagen. Das bekam bislang jeder Bundespräsident ganz passabel hin - ja, auch Heinrich Lübke, dessen lustigste Zitate fast vollständig nicht belegt und wahrscheinlich frei erfunden sind. Eine unverzichtbare Funktion, die keinesfalls von einem anderen Verfassungsorgan wahrgenommen werden kann, hat das Amt des Bundespräsidenten nicht inne. Das ist so gewollt und auch sinnvoll, doch dazu gleich mehr.

Drittes Missverständnis: Der Bundespräsident sollte direkt vom Volk gewählt werden.

Nichts gegen direkte Demokratie, von der es leider viel zu wenig in diesem Land gibt, aber sie ist nicht an allen Stellen angebracht. Der Bundespräsident ist ein Beispiel. Kaum einem Amt hat unsere Verfassung weniger Macht und mehr Bedeutung zugedacht. Der Widerspruch ist historisch begründet. In der Weimarer Republik hatte der Reichspräsident eindeutig zu viel Macht und konnte im Zweifelsfall die gewählte Regierung einfach absetzen. In der Bundesrepublik zog man daraus die Konsequenz, die Macht eindeutig auf das Amt des Bundeskanzlers zu konzentrieren. Der Bundespräsident hat zwar formal noch einige Befugnisse, aber die Verfassung lässt ihm bei der Ausübung kaum Spielraum. Was passiert nun, wenn man dieses Amt direkt wählen lässt?

Es hat auf einmal mehr demokratische Legitimation als das des Bundeskanzlers, der nur indirekt gewählt wird. Als Konsequenz könnte der Bundespräsident Machtbefugnisse verlangen, die denen des Bundeskanzlers gleichrangig wären - immerhin repräsentiert er ja direkt den Volkswillen. Nun könnte man auf die Idee kommen, auch den Bundeskanzler direkt wählen zu lassen. Wenn man die Plakate zu Bundestagswahlen sieht, könnte man auf die Idee kommen, dass dies ohnehin geschieht. Das aber widerspräche der Idee, die hinter dem Amt des Bundeskanzlers steht. Hierzu sieht das Grundgesetz in Artikel 65 vor: "Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung." Das geht allerdings nur, wenn er hinter sich eine Bundestagsmehrheit weiß, was bei einer Direktwahl nicht unbedingt gewährleistet ist. Man müsste schon sehr wild am Grundgesetz herumschrauben, nur um ähnlich den Bundespräsidenten ähnlich wie einen Klassensprecher nach Beliebtheitskriterien wählen zu können.

Viertes Missverständnis: Am Kandidaten Gauck sieht man die Macht des Netzes.

Der großartige Mario Sixtus hat es an anderer Stelle schon geschrieben: Das im Internet veranstaltete Getue um Gauck wird maßlos überbewertet. Zwar gibt es in der Netzgemeinde kaum Unterstützung für Wulff, aber sehen wir die Sache einmal nüchtern: Wie groß ist denn der Anteil der deutschen Internetnutzer, die aktiv für Gauck Partei ergriffen? Er liegt irgendwo im mittleren bis niedrigen einstelligen Prozentbereich. Wir Netzaktivisten fallen seit dem Wirbel um die Piratenpartei immer wieder auf den gleichen Effekt herein: Dadurch, dass wir uns die Inhalte, die wir uns ansehen, selbst auswählen, dadurch, dass wir unseren Umgang im Netz selbst bestimmen, nehmen wir die Realität äußerst selektiv wahr. Wenn bei einer Spiegel-Online-Umfrage 80 Prozent der Stimmen auf die Piratenpartei oder ähnlich hohe Werte auf Gauck entfallen, übersehen wir dabei, dass es immer leichter wird, innerhalb weniger Stunden durch ein paar geschickte Blogartikel und einige Twittermeldungen zigtausende Menschen zum ebenso leichten wie folgenlosen Anklicken einer bestimmten Seite zu bewegen. Erinnern Sie sich noch an die etwa 134.000 Unterschriften unter die Bundestagspetition gegen die Internetzensur? Haben Sie eine Ahnung, wie viele von denen auf diesem Gebiet noch politisch aktiv sind? Erinnern Sie sich noch an die enorme Präsenz, welche die Piraten vor einem Jahr im Netz entfalteten, an das Gefühl der Erleichterung, das viele von uns, mich eingeschlossen, empfanden, weil die diffuse Unzufriedenheit der Netzgemeinde konkrete politische Formen anzunehmen begann? Entsprechen Wahlergebnisse zwischen einem und zwei Prozent auch nur annähernd dem Wirbel, der auch außerhalb des Internet um diese Partei veranstaltet wurde? Wir müssen wohl oder übel zur Kenntnis nehmen, dass wir es in immer kürzerer Zeit schaffen, immer mehr Leute zu immer folgenärmeren Aktionen zu bewegen. Im Prinzip organisieren wir einen Flashmob nach dem nächsten und bemerken nicht, dass inflationär steigende Teilnehmerzahlen an irgendwelchen virtuellen Aktionen in der Außenwelt immer weniger Nachhall entfalten.

An der Grenze der Peinlichkeit lavieren die Versuche, Wulff als eine Art christlichen Taliban hinzustellen. Wulff hat seinen Glauben nie verheimlicht. Auch pflegt er zu Gruppen Kontakt, die evangelikal geprägt sind oder zumindest eine befremdlich offensive Glaubensauffassung vertreten. Der bei Netzbewohnern gern dann einsetzende Beißreflex, wenn jemand eine aus ihrer Sicht irrationale Ansicht vertritt (wie: "Emacs ist besser als vi", "Windows ist besser als Linux", "Die Piraten vertragen keine Kritik" oder "Ich glaube an G'tt"), verstärkt durch eine grundsätzliche Ablehnung gegenüber allem, was nicht total Web 2.0 ist, lässt jedoch in ihren Augen den neuen Bundespräsidenten zu einer Art modernen Kreuzritter werden, gegen den die Eskapaden eines George Bush junior wie reiner Atheismus wirken. Möglicherweise wäre an dieser Stelle ein Blick ins Grundgesetz angebracht. Das nämlich sieht Religionsfreiheit vor, auch für Bundespräsidenten. Das gleiche Recht, das den hier lebenden Menschen zugesteht, so irrationales Zeugs wie einen Gott abzulehnen und statt dessen so offensichtlich wahre Dinge zu glauben wie beispielsweise dass Fußballweltmeisterschaften irgendeinen Sinn ergeben, dass es reicht, alle vier Jahre Zettelchen in Kästen zu schmeißen und damit die Dinge zum Guten zu wenden oder dass es bei "DSDS" um Musik geht, erlaubt es Wulff, Christ zu sein. Man darf ihm dabei ruhig genügend Intellekt zugestehen, als Inhaber eines Amtes, das sehr großen Wert auf Harmonie legt, es nicht zu übertreiben. Man sagt ja den Christen nicht ganz zu unrecht diverse Albernheiten nach, aber es ist meiner Einschätzung nach nicht damit zu rechnen, dass morgen an den Schulen die Schöpfungslehre alternativ zur Evolutionstheorie gelehrt wird und dass die paläontologischen Musseen schließen müssen, weil millonen Jahre alte Saurierknochen laut Bibel nicht existieren können.

Die schwarz-gelbe Koalition ist angeschlagen.

Es gibt einen großen Unterschied zwischen der realen Bedeutung eines Ereignisses und dem Buhei, den wir darum veranstalten. Ich bin mir sicher: Sofern Wulff im Amt nicht vollkommen versagt, wird sich schon in wenigen Wochen kein Mensch mehr an die kleinen Holpereien bei seiner Wahl erinnern. Was ist denn eigentlich passiert? Ein paar Wahlleute der Regierungskoalition haben den Zwergenaufstand gespielt, aber sich im alles entscheidenden Moment brav wieder ans Händchen nehmen lassen. Am Ende zählt das Ergebnis, und das sagt, dass Wulff statt der nötigen relativen sogar die absolute Mehrheit hinter sich versammeln konnte.

Möglicherweise ist es einmal Zeit für einen Realitätsabgleich. Nicht nur für die Netzgemeinde - für alle.

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