Freitag, 30. Juli 2010

Politiker sind keine Klassensprecher

Die Überraschung des heutigen Tages: Politische Mandatsträger sind menschliche Lebewesen, auch wenn einige von ihnen dies nicht wahrhaben wollen. Menschen begehen Fehler, und je weiter oben sie in der Machthierarchie stehen, desto schwerwiegender sind tendenziell ihre Fehlentscheidungen. Jüngstes Beispiel ist die Duisburger "Loveparade".

Sie ist geradezu ein Musterbeispiel dafür, was passieren kann, wenn Geltungssucht, Geldgier, Inkompetenz, Ignoranz und nicht zuletzt auch ganz schlichtes Pech zusammenkommen: Geltungssucht, weil man sich unbedingt mit einer legendären Veranstaltung schmücken wollte, Geldgier, weil eine Veranstaltung dieser Größe dem Veranstalter auch den einen oder anderen Cent in die Kasse spült, Inkompetenz, weil man nicht besonders intelligent sein muss, um die Diskrepanz zwischen der großen erwarteten Besucherzahl, der kleinen Veranstaltungsfläche und dem noch viel kleineren Zugang zum Gelände zu erkennen, Ignoranz, weil es schon erheblicher Energie bedarf, bei so offenkundiger Sachlage trotzdem an seiner Linie festzuhalten und Pech, weil immer wieder katastrophale Fehlplanungen nicht zum befürchteten Ergebnis führen, in diesem Fall aber der Unfall passierte.

Hinterher ist man immer schlauer. Wäre alles gutgegangen, hätte man sich gegenseitig begeistert auf die Schulter geklopft. Hätten die Verantwortlichen im Vorfeld kalte Füße bekommen und die Veranstaltung abgesagt, hätte man sie so in der Luft zerrissen wie vor einem Jahr die Bochumer Stadtverwaltung. Komischerweise kramt man die Warnungen vor einem Unglück immer erst dann aus dem Archiv, wenn das Schlimmste eingetreten ist. Auf der anderen Seite gibt es immer irgendjemanden, der mehr oder weniger begründete Bedenken vorträgt. Es ist ungefähr wie mit einer Mutter, die ihrem Kind auf dem Weg zur Schule jahrelang ein nerviges "und pass bloß auf, wenn du über die Straße gehst" nachruft und das eine Mal, als es dann doch zum Unfall kommt, lamentiert: "Na, hab ich es nicht immer gesagt?"

In Duisburg war die Lage jedoch anders. Man muss kein Experte für Massenveranstaltungen sein, um sich gleich nach den ersten Twitterfotos zu fragen: "Moment, wie viele Leute wolltet ihr doch gleich durch diese Unterführung zwängen? Seid ihr völlig durchgedreht?" Weniger offensichtlich ist hingegen die Frage zu beantworten, wer genau hier versagt hat. Wahrscheinlich waren es mehrere.

Der Veranstalter hätte einfach erkennen müssen, dass er viel zu viele Besucher auf ein viel zu kleines Gelände stopfen will. Die Polizei hätte das Gelände wegen Überfüllung sperren und die heranströmenden Menschenmassen umlenken können. Die Stadt hätte die drohende Katastrophe sehen und die Veranstaltung schlicht verbieten können. Wichtig ist aber: Es gibt nicht den einen, klar benennbaren Versager, der allein die volle Verantwortung trägt. Versagt haben viele, und jeder kann sagen, dass er allein gar nicht anders handeln konnte.

Es ist zwar beschämend, aber auch verständlich, dass jeder die Verantwortung wegzuschieben versucht. Niemand hat Lust, ganz allein die Schläge einzustecken. Für die zum Teil schwer Verletzten und die Angehörigen der Toten ist diese Strategie freilich schwer zu ertragen.

Befremdlich sind auch die Verrenkungen, die der Duisburger Oberbürgermeister Sauerland anstellt, um im Amt zu bleiben, zumal diese Verrenkungen vor dem Hintergrund möglicher Pensionsansprüche den Beigeschmack bekommen, hier ginge es entgegen seiner Beteuerungen nicht um rückhaltlose Aufklärung, sondern vor allem um schnödes Geld. Befremdlich ist aber auch die Vorstellung, die in vielen Köpfen von politischen Ämtern herrscht und die offenbar von dem aus Grundschulzeiten bewahrten Denken geprägt ist, ähnlich wie Klassensprecher werden Mandate als Belohnung für besondere Beliebtheit verliehen. Entsprechend besteht die größte Strafe in Liebesentzug und damit Amtsverlust. Verantwortung und Verliebtheit sind jedoch zwei verschiedene Dinge, und man sollte sie auf keinen Fall verwechseln.

Der Busfahrer zum Beispiel, der mich täglich zur Arbeit fährt, ist ein ausgesprochen unsympathischer Zeitgenosse. Seine schlechte Laute könnte man benutzen, um Messgeräte für Menschenfreundlichkeit sauber auf Null zu eichen. Mit diesem Mann werde ich garantiert nie im Leben abends in meine Lieblingskneipe gehen. Dennoch hat er mein volles Vertrauen. Er fährt umsichtig, rücksichtsvoll, achtet die Verkehrsregeln und schafft es bei all dem noch, pünktlich zu sein. Ich mag den Kerl nicht, aber wenn es um die Aufgabe geht, einen mit Betrunkenen, Schülern und anderen Risikofaktoren beladenen Bus sicher durch den Innenstadtverkehr zu fahren, ist er mein Mann.

Nicht anders sollte es bei politischen Mandaten sein. Es ist nichts egaler, ob Angela Merkel herunterhängende Mundwinkel und einen lächerlichen Haarschnitt hat. Es ist unerheblich, ob Wolfgang Schäuble im Rollstuhl sitzt, Edmund Stoiber stottert und Sigmar Gabriel ein paar Pfunde verlieren könnte. Die Leute können hässlich wie die Nacht sein, so lange sie ihren Aufgaben gewachsen sind. Ich brauche keine schöne, ich brauche eine fähige Regierung, und so lange das nicht gegeben ist, kann die Kanzlerin meinetwegen Claudia Schiffer und der Innenminister Johnny Depp sein; die Lage wird dadurch nicht besser.

Politische Ämter bedeuten Macht, Macht bedeutet Verantwortung, und Verantwortung bedeutet vor allem, dass man jemanden braucht, der sie tragen kann. Dass man sich in Deutschland nichts Schlimmeres vorstellen kann, als einen politischen Versager mit üppigen Pensionsansprüchen in den unverdienten Ruhestand zu schicken, kommt mir zumindest hinterfragenswert vor. Ich erwarte von der Kanzlerin nicht, dass sie mir ein ums andere Mal erzählt, dass sie noch Spaß am Regieren hat. Ich erwarte von ihr, dass sie nachts schweißgebadet aufwacht und sich fragt, ob sie wirklich die besten Entscheidungen trifft. Macht ist keine Belohnung, sie ist eine Bürde. Es gab Kulturen, die ihre Häuptlinge zwangsverpflichteten. Dort hat sich niemand darum gerissen, die Nummer eins zu sein, sondern man lebte in der ständigen Sorge, die Folgen einer Fehlentscheidung tragen zu müssen. Bereits Sokrates beschrieb die Gefahr, die von Leuten ausgeht, die sich um politische Ämter reißen, aber wir heben heute Leute ins Amt, deren einziges Argument, Kanzler zu werden, im Satz "ich will da rein" besteht.

Wenn wir das nächste Mal entrüstet den Kopf eines Politikers fordern, der unserer Meinung nach versagt hat, können wir uns ja auch einmal die Frage stellen, wer der größere Versager ist: Der Mensch, dessen Rücktritt wir wollen, oder wir, die mit unübertroffener Zielsicherheit solche Leute immer wieder ins Amt wählen.

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