Dienstag, 5. Oktober 2010

Und willst du nicht mein Wähler sein, dann schlag ich dir den Schädel ein

Wenn ich einmal eine Prognose wagen darf: Dieser komische Bahnhof in Stuttgart wird gebaut, und ist er einmal fertig und hat die ersten Kinderkrankheiten überwunden, wird sich das ganze Land wundern, warum man das Ding nicht schon vor Jahrzehnten verbuddelt hat.

Darum geht es aber gar nicht. Es geht nicht darum, dass die Entscheidung, einen fast mitleiderregend hässlichen Bahnhof abzureißen und durch einen unterirdischen Nachfolger zu ersetzen, vielleicht schrecklich teuer, aber auf lange Sicht sinnvoll ist. Es geht darum, mit welcher nordkoreanischen Gutsherrenattitüde Regierungen Beschlüsse durchsetzen - selbst wenn sie auf demokratischem Weg zustande gekommen sein sollten.

Ich weiß, dass selbst der Beschluss des Bahnhofsneubaus auf umstrittene Weise gefällt wurde, aber nehmen wir für den Augenblick einmal an, das Verfahren wäre demokratisch einwandfrei gewesen: Mit welchem Recht schlägt die politische Mehrheit die politische Minderheit krankenhausreif, nur um einen Bauzaun zu errichten?

Wir brauchen uns nicht darum zu streiten, dass einige Demonstraten die Grenze zur Peinlichkeit souverän hinter sich gelassen haben. Das haben sie. Allein schon die "Geht-weg"-Rufe zu den Polizisten, die den Schlossgarten räumen, lassen beim nüchternen Betrachter die Frage aufkommen: Was soll das? Wen wollt ihr damit beeindrucken? Glaubt ihr wirklich, dass auch nur ein Polizist jetzt ins Grübeln kommt: "Ja, stimmt eigentlich. Ich könnte jetzt auch nach hause gehen. Dann pack ich hier wohl mal ein." Bei aller Sympathie für euer Anliegen, aber so funktioniert das nicht. Besser finde ich freilich die "Haut-ab"-Rufe. Genau das haben die Bauarbeiter ja mit den Bäumen vor.

Doch es geht auch nicht hierum. Demonstranten haben wie alle an der demokratischen Willensbildung Partizipierenden das grundgesetzlich verankerte Recht, sich in aller Form der Lächerlichkeit preiszugeben. Mehr noch: Überschreiten sie eine gewisse Anzahl, dann muss man jede vermeintliche Lächerlichkeit sogar ernst nehmen, denn dann haben diese Menschen per definitionem vor allem eines: Recht.

Genau das ist nämlich Demokratie: Wer nur genügend Leute mobilisiert, bekommt seinen Willen, und sei er bei nüchterner Betrachtung noch so unsinnig. Da sind 50.000 Demonstranten schon einmal eine ganz passable Zahl. Die Veranstalter der "Freiheit statt Angst" knapp zwei Wochen vorher in Berlin wären froh gewesen, hätten sie ein Fünftel davon auf die Straße bekommen. Darüber hinaus laufen diese Demonstrationen schon seit Wochen. Allein das ist für mich Grund genug, bei aller Lächerlichkeit, die so mancher Aktion anhängt, der Bewegung als solcher Respekt zu zollen. Frieden, Umwelt, Menschenrechte - das scheint nicht mehr so recht zu ziehen, aber einer der hässlichsten Bahnhöfe Deutschlands schon. Na gut.

Natürlich geht es auch längst nicht mehr um einen Bahnhof, der ohnehin schon so gut wie abgerissen ist. Es geht darum, wie dieses Projekt durchgedrückt wird. Wenn Bahnchef Grube sich auf die an Dummheit kaum noch zu überbietende Behauptung versteigt: „Ein Widerstandsrecht gegen einen Bahnhofsbau gibt es nicht. [...] Bei uns entscheiden Parlamente, niemand sonst.“, möchte ich ihm am liebsten eines der kleinen Grundgesetze schenken, die ich als Material für Informationsstände bei mir herumliegen und im Gegensatz zu Grube gelesen habe. Natürlich steht da nichts vom Widerstand gegen Bahnhöfe, aber dafür von Meinungsfreiheit und Demonstrationsrecht. Rudi, alter Freund und Schienenleger, in diesem Land darf zunächst einmal jeder gegen alles Widerstand leisten. Die Frage ist allenfalls, wie weit er dabei gehen darf. Und was die Antwort auf die Frage anbelangt, wer in diesem Land das Sagen hat, muss man auch nicht lange blättern, sondern findet unter Artikel 20, Absatz 2: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus." Dass die Meisten so leichtsinnig sind, ihre demokratischen Freiheiten an Parlamente zu delegieren, ändert nichts daran, dass wir uns dieses Recht jederzeit wieder holen können. Ich schreibe es an Stellen wie diesen immer wieder: Wahlen sind laut Grundgesetz keine für eine Legislaturperiode geltenden Blankochecks, sondern eine grobe Richtungsentscheidung, deren Details aber in ständiger Bewegung sind - oder besser: sein sollten.

Tatsächlich haben wir den Parlamenten in den letzten Jahrzehnten viel zu viel durchgehen lassen, so dass sich in manchem Parlamentarierhirn ein klein wenig Größenwahn die Bahn bricht: So spricht beispielsweise der baden-württembergische Innenminister Goll (FDP) davon, "die Menschen seien in zunehmender Zahl sehr unduldsam und wohlstandsverwöhnt" So mögen Sonnenkönige zur Zeit des Absolutismus über den ihnen untergeordneten Pöbel - ja nennen wir es der Einfachheit halber einmal "gedacht" haben, für ein Kabinettsmitglied, das von unseren Stimmen abhängig ist und von unserem Geld durchgefüttert wird, ist das eine etwas dreiste Haltung, die bei der nächsten Wahl auch ganz schnell mit Machtverlust belohnt werden kann.

Dabei hätte man es so leicht haben können. Man hätte nur etwas warten müssen, das ganze Gelände einfach einkesseln, jeden heraus, aber niemanden hinein lassen können. Irgendwann muss auch der tapferste Baumbesetzer wieder zur Schule, zur Arbeit, aufs Klo oder Essen kaufen gehen. Nach und nach hätte sich der Schlossgarten geleert. Statt dessen lautete der Marschbefehl offenbar: "Geht da rein und zeigt den Leuten mal, wie man hier im Schwabenland politische Beschlüsse umsetzt" und sorgte für Bilder, die bis weit ins bürgerliche Lager Irritationen erregten.

Es bleibt unbestritten, dass Beschlüsse bindend sind und dass es nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht des Staatsapparats ist, demokratisch gefällte Entscheidungen umzusetzen. Die Frage ist jedoch, wo die Verhältnismäßigkeit aufhört. Zigtausende Menschen, die über Wochen protestieren, sind auch ein Votum, und wenn die einzige Antwort lautet, mit autistischer Sturheit am einmal gefällten Beschluss festzuhalten, egal wieviel Leute man dafür krankenhausreif knüppeln muss, dann gefährdet man mehr als die eigene Regierungsmehrheit. Dann gefährdet man das Vertrauen in die Demokratie.

Wenn die Demokratie versagt, müssen Gerichte die Sache ausbaden. Besonders beliebt bei allen, die schon eine Umweltkatastrophe fürchten, wenn der Nachbar Unkraut jätet, sind bedrohte Tier- und Pflanzenarten, die anscheinend bevorzugt auf designierten Bauplätzen leben. Egal, ob man den Namen des Viehs, für dessen Erhalt man sich auf einmal ganz selbstlos einsetzt, jemals zuvor gehört hat, um ihn mit vor Empörung zitternder Stimme hochzuhalten, reicht er allemal. Ich habe zugegebenermaßen keine Ahnung von Biologie, aber wie wesentlich kann der ökologische Beitrag eines Käfers sein, dessen Vorkommen sich zumindest in der Region Stuttgart allein auf ein paar Quadratmeter Schlosspark beschränkt?

An dieser Stelle eine Klarstellung: Meine Kritik gilt nicht der Polizei an sich, allenfalls den unnötigen Aktionen einiger am Stuttgarter Einsatz beteiligter Polizisten. Ich halte nicht im Geringsten etwas von Titulierungen wie "Schweinebullen". Erstens tragen Beleidigungen wie diese nichts zur Entspannung des Verhältnisses bei, zweitens mögen Polizisten eine bisweilen bizarr anmutende Auffassung von "Recht und Ordnung" haben, aber in den meisten Fällen leisten sie eine extrem harte, verantwortungsvolle und gute Arbeit, drittens habe ich mit Polizisten bislang ausnahmslos gute Erfahrungen gesammelt. Ich mag in vielen Fällen mit ihnen nicht einer Meinung sein, aber ich bin froh, dass es sie gibt, und sie haben es in meinen Augen verdient, anständig behandelt zu werden. Die Verantwortung für die Stuttgarter Ereignisse liegt nicht bei ihnen, sondern bei den politischen Befehlsgebern.

Wenn Volkes Stimme und Volkes Vertretung so massiv wie gerade in Stuttgart aufeinander prallen, stellt sich immer wieder die Frage nach Sinn und Unsinn direkter Demokratie. Ich war früher strikter Gegner von Volksentscheiden, weil es mir verdächtig vorkam, dass Regierungen vor allem dann ihr Faible für Referenden entdecken, wenn sie nicht weiter kommen, jede mögliche Entscheidung massive Nachteile mit sich bringt und sie auf keinen Fall für das, was kommt, zur Rechenschaft gezogen werden wollen. Darüber hinaus werden die Säue inzwischen mit einem Tempo durchs Dorf getrieben, dass die Zeitdilatation messbare Auswirkungen zeigt. Wenn man jedes Mal, wenn Volkes Seele kocht, einen Volksentscheid vom Zaun bricht, hat man am Ende einen Haufen unausgegorener, vor Populismus nur strotzender Gesetze.

Nur: Wo ist der Unterschied zu heute?

Man muss sich nur die seit dem Jahr 2001 durchgeboxten Antiterrorgesetze ansehen. Die paar zauseligen Bürgerrechtler, die ernsthaft gegen diesen Unsinn argumentiert haben, spielten in der Entscheidung keine Rolle. Die Stimmung nach den Anschlägen war hysterisch, und es ist allein dem Bundesverfassungsgericht zu verdanken, dass wenigstens ein Teil dieser laienhaft zusammengehuddelten Grundrechtsverstöße wieder aufgehoben wurde. Ebenso werden auch langfristig angelegte Wahlen gezielt durch kurzzeitige Stimmungsmache manipuliert. Wäre dem anders, bräuchten die Parteien Steuererhöhungen vor einer Wahl nicht so massiv zu leugnen, um sie unmittelbar nach Vereidigung der Regierung durchzuziehen.

"Das Volk ist noch nicht reif", höre ich in verschiedenen Variationen immer wieder auch von Menschen, die ich eher dem libertären Spektrum zuordne. Solche Sätze sind entweder arrogant oder peinlich. Entweder ist "das Volk" dumm, wobei man selbst natürlich nicht dazu gehört, oder man bezichtigt sich selbst solch einer Dummheit, dass man sich am besten selbst gleich das Wahlrecht entziehen sollte. Solche Leute verneinen offenbar jeden Lernprozess.Natürlich kann man ein Kleinkind, das gerade Laufen lernt, nicht gleich zu den Olympischen Spielen schicken, aber deswegen darf man ihm nicht bereits das Aufrichten mit der Begründung verweigern, dafür sei die Zeit nicht reif. Nach 90 Jahren guter und schlechter Erfahrung mit Wahlen dürfte man in Deutschland wohl ungefähr begriffen haben, wie die Sache funktioniert und wo es Risiken gibt.. Aus meiner Zeit ist es Zeit für mehr direkte Demokratie.

Doch selbst, wenn man der erprobten parlamentarischen Demokratie anhängt, sollte man merken, dass es einen Unterschied zwischen der Führungsstärke einer Regierung, die eine langfristig sinnvolle Entscheidung durchsetzt, und prinzipienreitender Sturheit einen Unterschied gibt. Wahlen sind keine Gottesurteile. Regierungen sind keine Päpste. Ihre Entscheidungen sind fehlbar.

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