Sonntag, 1. Mai 2011

Buchkritik "Die Datenfresser"

Hört man sich im Bekanntenkreis um, interessiert sich kaum jemand für das Thema Datenschutz. Facebook, Onlinebanking und unverschlüsselte Mails benutzten die Meisten mit der gleichen Unbekümmertheit, mit der sie jedes noch so überflüssige Webformular ausfüllen - Geburtsdatum, Telefonnummer, Privatanschrift und Kontonummer selbstverständlich inbegriffen. "Da geht schon nichts schief", heißt es in der Regel. "Das kann ruhig jeder von mir wissen, und wenn die das in dem Formular verlangen, dann muss ich das ja wohl auch hinschreiben."

Auf der anderen Seite ist das Entsetzen groß, wenn Google Häuserwände fotografiert. Google ist böse, das hat man inzwischen gelernt. GMX, Web.de, Yahoo und Freenet hingegen sind ganz doll lieb, die schenken uns nämlich ganz viele schöne Webdienste und wollen dafür nichts von uns - nur unser Bestes.

"Unser Bestes" sind in diesem Fall unsere Daten, je intimer, desto besser.

Genau dieser Frage, wo bei unserer Nutzung moderner Kommunikationsmittel Daten anfallen und wer sie wie nutzt, gehen Constanze Kurz und Frank Rieger in ihrem Buch "Die Datenfresser" nach. Um dieses Buch kommt man allein deswegen schon nicht herum, weil sich hier zwei zu Recht bekannte und qualifizierte Vertreter des politischen Flügels des Chaos Computer Clubs zu Wort melden. Ihr Augenmerk liegt in diesem Werk vor allem auf wirtschaftlichen Fragen. Andere Aspekte, wie Terrorhysterie und ein aus den Fugen geratender Ermittlungsapparat behandeln sie zwar auch, aber gerade die beiden in Geschichtsform gehaltenen Kapitel, in denen sie die gegenwärtigen Missbräuche schildern und eine mögliche nahe Zukunft beschreiben, konzentrieren sich auf die Wirtschaft.

Die beiden Autoren haben allein schon an Äußerlichkeiten ihres Buchs einige Entscheidungen getroffen, die verdeutlichen, wen und was sie erreichen wollen: Zuallererst haben sie ihren Text als Buch veröffentlicht - nicht als Blog oder einer anderen elektronischen Form. Gut, es gibt auch eine E-Book-Fassung, aber bei zwei anerkannten IT-Spezialisten, die elektronische Kommunikation länger nutzen als die Meisten von uns, überrascht es ein wenig, dass sie überhaupt den Weg schnöder Analogkommunikation wählen.

Ein zweiter Punkt fällt auf: Das Buch ist mit 272 Seiten nicht übermäßig dick ausgefallen und lässt sich in wenigen Tagen leicht durchlesen. Drittens verzichten die Autoren auf ein Literaturverzeichnis, Index und Fußnoten. Kurz: Hier will man weniger die Diskussion in Expertenkreisen befeuern, sondern vor allem Normalnutzer erreichen. Das merkt man auch beim weiteren Lesen: Der größte Teil des Buchs vermeidet Fachvokabeln und legt Wert auf Allgemeinverständlichkeit.

In den vergangenen Monaten kochte die Diskussion zwischen Vertretern des klassischen Datenschutzes und Verfechtern der Post-Privacy, die eine radikale Veröffentlichung privater Daten propagieren. Die Debatte verläuft bisweilen sehr emotional und gipfelte in gegenseitigen Beschimpfungen, die in meinen Augen die Sache nicht recht voran bringen. Die "Datenfresser" gehen in diesem Zusammenhang seitens der klassischen Datenschützer den Schritt zurück zur sachlichen Auseinandersetzung. Kurz und Rieger beziehen zwar eindeutig Position, vermeiden aber den in Datenschützerkreisen mitunter beliebten hysterischen Tonfall. Damit sind die "Datenfresser" ein typisches Buch, das man Leuten in die Hand drücken kann, wenn man es leid ist, immer wieder in einer Diskussion die Grundlagen durchzukauen und einfach nach einer gut lesbaren, aktuellen Positionsbeschreibung sucht.

Eine Sache hätte ich gern ausführlicher gesehen, die von den "Datenfressern" bewusst nur angeschnitten, nicht aber in voller Tiefe behandelt wird: eine Auseinandersetzung mit den Vorwürfen der Post-Privacy. Es gibt Fragen, die der klassische Datenschutz nicht überzeugend beantwortet und die es der Post-Privacy ermöglichen, den Datenschutzgedanken grundsätzlich in Frage zu stellen - ohne dabei allerdings eine komplett ausformulierte Gegenposition zu bieten. Ein Stichwort ist beispielsweise der so genannte "Kontrollverlust" - das Phänomen der unkontrollierten Verbreitung einer einmal ins Netz eingespeisten Information. Fundamentalistische Datenschützer erwecken in dieser Frage oftmals den Eindruck, als wollten sie am liebsten wieder zurück ins Vor-Internet-Zeitalter, wo man den Datenfluss noch einigermaßen im Griff hatte. Sie wirken dabei ähnlich deplaziert wie der radikalökologische Flügel der Grünen in den frühen 80ern. Doch genau so, wie man damals nicht den kompletten Personen- und Frachtverkehr aufs Fahrrad umgelagert hat, wird man heute IP-Pakete nicht per Brief verschicken. Die Post-Privacy legt in genau diese Wunde ihren Finger und verlangt, die Daten frei fließen zu lassen, was, um eine weitere historische Parallele zu ziehen, etwa der von der CDU beschlossenen Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke entspricht - jetzt stehen die Dinger schon einmal da, dann lasst sie uns auch nutzen. Wozu diese unbekümmerte Haltung führt, sehen wir gerade in Japan.

Kurz und Rieger wissen um diese Fragen, und wer ihre Interviews bei Radio Fritz oder Netzpolitik.org gehört hat, weiß, dass sie sich damit auch beschäftigt haben. Dieser Teil der Diskussion findet leider wieder hauptsächlich in den üblichen Expertenzirkeln statt. Die gleichen Fragen werden aber auch außerhalb der IT-Szene an die Datenschützer gestellt. Da nennt es nur eben niemand "Post-Privacy" und formuliert es so gekonnt wie Christian Heller oder Michael Seemann, sondern da sagt man einfach: "Alle meine Freunde sind auf Facebook", "Das kann doch ruhig jeder wissen" und "Was soll denn groß jemanden interessieren, wenn ich schreibe, mit wem ich gestern losgezogen bin?" Die "Datenfresser" beantworten diese Fragen implizit, sie sprechen hingegen nur selten explizit die gerade laufenden Disussionen an. Das wiederum gibt der Post-Privacy die bequeme Möglichkeit, das Kind am Straßenrand zu spielen, das "aber der Kaiser ist ja nackt" ruft. In Wirklichkeit ist der Kaiser zwar nicht nackt, seine nicht mehr ganz so neuen Kleider weisen jedoch an einigen sehr unangenehmen Stellen Mottenlöcher auf. Es ist an der Zeit, dass der Kaiser das Kind zur Kenntnis nimmt, ihm Stoff in die Hand drückt und sagt: "Dann lass mal sehen, was du zusammengeschneidert bekommst."

Trotz dieses Kritikpunkts bleiben die "Datenfresser" für mich ein lesenswertes, fundiertes Buch, eine aktuelle Positionsbestimmung und eine schöne Argumentationshilfe. Wer einen guten Einstieg ins Thema braucht, sollte es auf jeden Fall lesen, und wer seinen eigenen Standpunkt noch einmal kritisch hinterfragen möchte, findet viele Anregungen. Es freut mich sehr, dass sich der CCC nach langer Zeit wieder mit einem Buch in der Analogwelt Gehör verschafft.

Kurz / Rieger: Die Datenfresser. S. Fischer, ISBN 978-3-10-048518-2, € 16,95.

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