Samstag, 30. Juli 2011

Instrumentalisierung des Leids

Extreme Taten wie die Morde von Utøya führen zu sehr emotionalen Reaktionen. Das ist in gewisser Weise sogar ein gutes Zeichen, weil es andeutet, dass uns menschliches Leid immer noch berührt. Auf der anderen Seite sollten wir aufpassen, in der Emotion nicht die Relationen aus den Augen zu verlieren.


Das Verbrechen war noch gar nicht richtig vorüber, da meinten die Nachrichtenmedien schon, erste Erklärungen liefern zu müssen, und natürlich kamen viele sehr schnell mit dem Erzbösewicht, der seit dem 11.9.2001 in den Köpfen der westlichen Kulturen herumgeistert: dem Muselmann. Natürlich mussten es Islamisten sein, andere Leute sind auf dieser Welt ja gar nicht in der Lage, jemanden zu töten. Dummerweise stellte sich schon kurz darauf heraus, dass der Täter kein Moslem war. Also musste eine neue Erklärung her. Wenn der Muselmann ausscheidet, bleibt eigentlich nur noch der andere Erzbösewicht übrig: der Nazi. Das passte schon sehr viel besser, fand sich doch reihenweise Material, das auf einen rechtsradikalen Hintergrund schließen lässt.


An dieser Stelle hätte man innehalten und die Fakten stehen lassen können. Aber nein, aus Einzelereignissen muss ja unbedingt ein großer Trend herausgelesen werden. Die Attentäter von New York waren ja auch nicht einfach Dreckskerle, die mit geringem Aufwand möglichst viel Menschen umbringen wollten, es war der "islamistische Terror". Breivik ist nicht einfach ein niederträchtiger Lump, der mit völlig irrsinnigen Vorstellungen ein von Sozialdemokraten organisiertes Ferienlager ermordete, sondern er leitet den "rechtsradikalen Terror" ein.


Wenn wir so etwas glauben, haben die Terroristen ihr Ziel erreicht.


Dann nämlich verlieren wir unsere Fähigkeit, Risiken vernünftig abzuschätzen. Menschen müssen nur spektakulär genug ums Leben kommen, um bei uns das Gefühl aufkommen zu lassen, hier handle es sich um eine Bedrohung, die viel realer ist als die tatsächlichen Gefahren. Erinnern Sie sich noch an das Zugunglück in Eschede? Die 101 Toten und 88 Verletzten, die an diesem Tag von dieser Katastrophe betroffen waren, verdeckten die Tatsache, dass in der gleichen Woche ungefähr die gleiche Zahl Menschen in Verkehrsunfälle auf deutschen Straßen verwickelt ware - ohne dass jemand forderte, Autos abzuschaffen oder nur noch im Schritttempo zu fahren. Zwar kenne ich Sie nicht, kann Ihnen aber mit großer Wahrscheinlichkeit sagen, woran Sie sterben werden: Kreislauferkrankungen oder Krebs, und je länger Sie dem widerpsrechen, desto wahrscheinlicher werde ich Recht haben. Allein im Jahr 2007 waren es über eine halbe Millionen Menschen in Deutschland, die auf diese Weise starben. "Das ist ja auch was Anderes", werden Sie sagen. "Das hier sind natürliche Todesursachen. So schlimm es auch ist, sie sind nüchtern betrachtet unvermeidlich." Das sind Tote eines Terroranschlags auch - zumindest, wenn wir in einer freien Welt leben wollen.


Erklärungen, wie es zu einem Attentat kommen kann, gibt es rückblickend viele. Die banalste ist: Der Täter hatte Zugang zu Waffen. Nun haben wir aber in dieser Hinsicht schon eines der schärfsten Gesetze der Welt. So lange es einen breiten Konsens gibt, der bestimmten Berufs- oder Risikogruppen Waffenbesitz gestattet, wird es immer möglich sein, unbefugt an ein Gewehr zu kommen. Wir können nicht vor jede Schule, jeden Kindergarten, jedes Jugendzentrum Vereinzelungsschleusen mit Metalldetektoren stellen, und selbst wenn - dann stürmt der Amokläufer eben den Schulbus oder rennt durch eine Fußgängerzone.


Selbst die bei solchen Gelegenheiten immer wieder gescholtenen Schützenvereine eignen sich nur bedingt als vemeintliche Brutstätte des Terrors. Schützenvereine sind tendenziell unglaublich spießige Einrichtungen, und wer keinen Unterschied zwischen dem Schießen auf eine Pappscheibe und der Ermordung von Menschen sieht, sollte ernsthaft erwägen, die Bundeswehr zu verbieten.


Wenn man schon die Mittel nicht verhindern kann, dann vielleicht die Geisteshaltung, die zur Tat führte. Was hat der Täter denn vor dem Mord so alles getrieben? Aha, er hat Ballerspiele gespielt, er hat sich im Internet auf fragwürdigen Seiten herumgetrieben, er hat Horrorvideos geguckt. Wissen Sie, was geschätzte 102 Prozent aller Jugendlichen in ihrer Freizeit anstellen? Genau das hier Geschilderte, und ich behaupte, dass dies Erfahrungen sind, die man in einem bestimmten Alter sogar sammeln sollte. Wer den Popkultur-Bildungskanon der Jugendlichen verbieten will, wünscht sich insgeheim in eine Zeit zurück, in der Jungs in Matrosenanzügen Holzreifen über die Straßen rollen ließen und Mädchen in Rüschenkleidern ihre Puppenküche versorgten. Gucken Sie übrigens mal in die Geschichtsbücher, welchen Generationen wir die letzten beiden Weltkriege zu verdanken haben. Das waren nicht die mit dem Internetzugang.


Bleibt die Weltanschauung. War der Attentäter Moslem, dann droht uns der islamistische, war er Kommunist, droht uns der linke, war er Nazi, der rechte Terror. Man möge mich einen Kleingeist zeihen, aber für eine vernünftige Aussage über eine Messreihe brauche ich mehrere Werte, und ein einzelner Anschlag, sei er noch so ideologisch fundiert, begründet keine Aussage über einen Trend. Selbst mögliche Trittbrettfahrer reichen nicht aus, um eine Aussage über eine Serie treffen zu können. Die RAF-Morde - das war eine Reihe von Anschlägen, da kann man von linksradikalem Terror sprechen. Die brennenden Asylbewerberheime Anfang der 90er, die Skinheadübergriffe auf Ausländer - das waren thematisch gruppierbare Ereignisse. Breiviks Morde sind zwar aufsehenerregend und sorgfältig inszeniert, aber weit davon entfernt, dass man von der "Rückkehr des Terrors" oder gar dem "9/11 Norwegens" sprechen könnte. Es mag ja sein, dass viele Menschen die Geisteshaltung Breiviks teilen, aber so lange ein Unterschied zwischen Denken und Handeln besteht, muss man diesen Unterschied auch in der Antwort darauf berücksichtigen. "Nationalsozialismus ist keine Haltung, sie ist ein Verbrechen" plappert der Linke gern vor sich hin und glaubt, damit sei die Diskussion erledigt. Das ist sie leider nicht, denn unbeantwortet bleibt die Frage, wann denn ein zulässiger rechter Gedanke in ein rechtes Gedankenverbrechen übergeht und wie man sich eine Welt vorstellt, in der man alle Leute, die das Falsche denken, identifizieren und bestrafen kann.


Genau so platt, wie es vorher gegen den Islam, den Koran und gegen die Hassprediger ging, so geht es jetzt gegen den Rechtsextremismus und den Leuten, denen man bei dieser Gelegenheit immer schon eins auswischen wollte, namentlich Sarrazin und Broder. Breivik hat sich in seinem Manifest offenbar positiv über die beiden geäußert, und das passt nur zu gut ins linke Feindbild.


Man muss allerdings aufpassen, welchen Wert die Aussage hat, jemand habe jemand anderen zitiert. Ich halte von Broder sehr wenig. Für mich ist er ein selbstverliebter, relexionsunfähiger und rechthaberischer Schreiber unterer Qualität, der auf Verschwörungstheoretikerniveau jede Kritik an seiner Person als Bestätigung versteht - immerhin wurden alle großen Geister zu ihrer Zeit scharf angegriffen. Die Schülerzeitungspolemik, die er sich selbst gern herausnimmt, verbittet er sich selbstverständlich, wenn er selbst angegriffen wird, denn dann geht es auf einmal nicht mehr um seine Person, sondern um die große Sache, die er für seine persönliche Eitelkeit missbraucht.

Nun wird Broder also von einem Mörder zitiert. Was sagt uns das? Hätte er aus dem "Götterfunken" zitiert, wäre Beethoven dann ein Wegbereiter des Rechtsradikalismus? Erwächst dem Pennälergeschreibsel eines viertklassigen Spiegel-Autors irgendein Wert, weil es in den Aufzeichnungen eines Mörders auftaucht? Broder zum geistigen Vater der Morde von Oslo zu stilisieren, bedeutet, seinen Worten eine Macht zuzuerkennen, die sie einfach nicht besitzen. Der Spiegel hat schon längst seine Meinungsführerschaft im linksliberalen Spektrum eingebüßt. In den 80ern konnte man vielleicht noch am Montag sagen, was Deutschlands Linke die nächsten sieben Tage denken wird, aber inzwischen kann man sich mit sehr wenig Aufwand aus sehr vielen Quellen versorgen, so dass der Einfluss des einst so mächtigen Blatts erheblich geschrumpft ist. Entsprechend sieht es mit der Reichweite Broders aus. Als er in den 90ern noch aufgeregt für den Krieg gegen den Irak trommelte, konnte er die politische Debatte in Deutschland damit noch entscheidend prägen. Heute sucht man sich  politische Kommentare gezielt im Netz zusammen, und wer Brodes Hysterie nicht lesen mag, muss nicht wie einst im Spiegel über die entsprechenden Seiten hinwegblättern, sondern klickt sein Blog einfach nicht an.



Das Schlagwort der "geistigen Brandstiftung" zieht bei solchen Gelegenheiten ihre Runde durch die Blogs, aber ich halte diesen Begriff für unangemessen, weil er die Motive Broders und Sarrazins falsch einschätzt. Beide schreiben fremdenfeindliche Texte, aber sie wollen damit nicht zum Mord an Teilnehmern eines sozialdemokratischen Ferienlagers aufrufen, sondern zweierlei: Geld einnehmen und provozieren, die Frage ist nur, was ihnen wichtiger ist. Sie wissen, dass Deutschlands Linke in weiten Teilen funktioniert wie ein vor dem Supermarkt angeleinter Dackel: Harmlos, aber zuverlässig loskläffend, wenn man ihn ärgert. Deswegen haben Broder und Sarrazin einen Riesenspaß, vor dem Dackel herumzuhampeln und zuzusehen, wie der Kleine wütend lossprintet, um sich nach einem Meter fast mit seiner Leine zu strangulieren. Besonders amüsiert sie es, dass nicht nur ihre Befürworter ihre Bücher kaufen, sondern vor allem ihre poltischen Gegner, die sich an den Texten kräftig abarbeiten wollen. Glauben Sie mir, den beiden ist völlig egal, warum man ihren Büchern zu Rekordverkäufen verhilft, so lange die Einnahmen stimmen.


Ab und zu treiben sie es etwas zu bunt, und dann kann es passieren, dass der zur Weißglut aufgestachelte Dackel am Hosenbein zupft oder die Hand zwickt. Das wiederum ist ein willkommener Anlass, die zerrissene Hose und den blutenden Zeigefinger mit großer Märthyrergeste herumzuzeigen und sich von seinen Freunden bestätigen zu lassen, diese Dackel seien aber auch eine ganz besonders schlimme Plage, gegen die unbedingt etwas unternommen gehöre - wie man schon immer gefordert habe.


Eine Passage, die einem halbwegs vernünftig denkenden Menschen Rechtfertigung zum Mord an Kindern gibt, deren Eltern sich möglicherweise für Ausländerintegration einsetzen, wird man in Broders Schriften vergeblich suchen. Wer behauptet, von Broders selbstverliebten Tiraden im Spiegel ginge eine derart hypnotische Kraft aus, dass Breivik als praktisch willenlose Marionette nicht anders konnte, als dem Folge zu leisten, spricht den Mörder  von Schuld frei und begibt sich auf die diffuse Suche nach Hintermännern, um künftige Verbrechen weit im Vorfeld zu verhindern - also irgendwo im spekulativen Gestrüpp der dummes Gewäsch zwangläufig mit einschließenden freien Meinungsäußerung.


Das wiederum ist genau die Haltung, auf die Ordnungs- und Überwachungsfanatiker hinaus wollen: der Glaube, alles Böse ließe sich verhindern, wenn man nur früh genug eingriffe, die Idee, jede vom Konsens abweichende Meinung ginge irgendwann in Extremismus über, der zwangsläufig in Gewalt ende. Im Zweifelsfall sind diese Leute gar nicht einmal so unglücklich, dass die jüngsten Morde einen rechtsradikalen Hintergrund haben, weil die Linken bisher auf das Schreckgespenst des blutrünstigen Muselmanns nur begrenzt ansprangen. Jetzt aber kann man auch ihnen das Instrumentarium des modernen Überwachungsstaats als Heilsbringer verkaufen: Seht her, die Resetknöpfe fürs Internet, die Listen mit im Internet auffällig gewordenen Personen, die Vorratsdatenspeicherung, die Überwachungskameras, die Internetzensur - die sind zu nichts Anderem da, als euch vor dem braunen Mann zu retten, und haben wir erst einmal eine Gesellschaft geschaffen, in der nicht mehr partizipiert, sondern nur noch konsumiert wird, haben wir all diesen Gefahren, die durch die freie Rede entstehen, endgültig ein Ende bereitet.


Es gab in der ganzen Anti-Terror-Debatte der vergangenen Woche vor allem eine intelligente Äußerung, und die kam ausgerechnet vom Ministerpräsidenten des Landes, das gerade die Toten zweier Mordanschläge betrauert und bei dem hysterische Überreaktionen sogar noch am ehesten zu verstehen gewesen wären. Statt dessen erklärte Stoltenberg, die Antwort auf Gewalt bestünde nicht in Gegengewalt, sondern in noch mehr Demokratie und Offenheit.


Hut ab.

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