Dienstag, 20. September 2011

Buchkritik: Nerd Attack!

Erinnerungsbücher haben viel mit dem Betrachten vergilbter Fotoalben gemein: Ein Haufen mehr oder minder würdelos ergrauter Menschen gleichen Alters versammelt sich um den abgegriffenen Folianten, zeigt mit einstmals gelenkigen Fingern auf verschiedene Bilder, quiekt "ja, genau so war's, weißt du noch damals?" und schwelgt in Erinnerungen, die aufgrund des menschlichen Triebs, jede noch so widerliche Erfahrung in der Rückschau romantisch zu verklären, unglaublich toll, witzig und romantisch erscheinen. "Generation Golf" dürfte zu den ersten Büchern gehören, die mit lockerem Schreibstil, einem Schuss Selbstironie und einigen klugen Gedanken die perfekte Mischung für die zwischen 1965 und 1975 Geborenen boten, ihrer eigentlich doch recht faden Jugend so etwas wie Bedeutung abzugewinnen. Einige Autoren versuchten sich im Fahrwasser dieses Buchs an Erinnerungsbüchern anderer Generationen, erreichten aber meist nicht die Eleganz des Originals.

All diesen Büchern ist ein weiteres Merkmal gemein: Gehört man der dort beschriebenen Generation an, wirkt jedes noch so langweilige Detail ungemein bedeutend und witzig - eine Auffassung, die von Außenstehenden praktisch nie geteilt wird. Es ist eine Binsenweisheit, aber sie sei an dieser Stelle wiederholt, weil sie sich offenbar nicht ausreichend herumgesprochen hat: Jeder findet die eigene Jugend wahnsinnig wichtig, aber auch nur deshalb, weil er nun einmal definitionsgemäß durch diese Zeit geprägt wurde. Nüchtern betrachtet ist jedes Jahr auf seine Weise spannend oder langweilig, und ob Hitler oder die Beatles für die Entwicklung der Menschheit von größerer Bedeutung waren, wird in kommenden Jahrhunderten immer wieder neu entschieden. In Bezug auf Erinnerungsbücher heißt dies: So lange nicht klar wird, auf welche Weise die darin beschriebene Generation die Welt verändert, halten sie den Narziss bei Laune, bleiben aber sonst bedeutungslos.

"Nerd Attack!" von Christian Stöcker beantwortet die Frage, welche globale Veränderung es beschreibt, sehr deutlich: Es geht um die Nerds, die Anfang der 80er ihr Erweckungserlebnis auf dem C64 hatten, knapp 20 Jahre eine digitale Kultur aufbauten und seit einigen Jahren sich nicht nur in ihrem eigenen Biotop tummeln, sondern inzwischen auch die analoge Welt verädern wollen. Hier wird auch klar, warum das Buch nicht nur für die darin Beschriebenen eine interessante Lektüre ist. Wer verstehen will, wie diese merkwürdigen Aktivisten denken, die in Form der Piratenpartei, dem CCC oder dem AK Vorratsdatenspeicherung gerade die Politik in Unruhe versetzen, findet in "Nerd Attack!" die Antwort. Stöcker schreibt aus Sicht eines Computerenthusiasten, der zwar viel Begeisterung entwickelt, allerdings nie in der allerersten Reihe mitspielt. Er will sich nicht als 1337h4x0R herausstellen, sondern vielmehr die Haltung vermitteln, den das Gros der "Generation C64" umtreibt. So gelingt ihm ein ausgesprochen gut lesbarer und bis in die Details sauber dargestellter Abriss der Anfänge, als man sich mit einer Kombination aus zusammengespartem Taschengeld und phantasiereich den Eltern entlockten Sponsorengeldern voller Stolz den 8-Bit-Homecomputer von Commodore mit unfassbaren 64 KB RAM an den Fernseher anschloss, bis hin zur Gegenwart, in der die zwischenzeitlich deutlich in die Jahre Gekommenen aus ihrer Hingabe für die Computer auch politische Konsequenzen gezogen haben und sich dafür einsetzen, dass ihre digitale Gesellschaft nicht von Internetausdruckern zerstört wird.

Die Kluft zwischen den mit Computern Aufgewachsenen und dem überwiegend noch im Analogzeitalter verhafteten politischen Würdenträgern ist der rote Faden in Stöckers Buch und erklärt auch, warum es weit mehr ist als die selige Erinnerung eines C-64-Veterans an seine wilde Jugend. "Nerd Attack!" beschreibt, wie Jugendliche zunächst einfach aus Geldmangel Spiele illegal kopierten, später ein Sport daraus wurde und schließlich sich das Bewusstsein festigte, dass ein Urheberrecht, das von fest an einen bestimmten Datenträgern gekoppelten Werken ausgeht - mit anderen Worten: Fotos, Schallplatten, Filmen -, in einer Welt des beliebigen Vervielfältigens und Zitierens vollkommen absurd wird. Früher war klar, dass man nicht einfach die Negative eines Fotos stehlen und sie als die eigenen ausgeben durfte. Heute aber versteht kein Mensch mehr, warum man nicht ein für alle im Internet sichtbares Foto von einer Bockwurst mit Kartoffelsalat nicht in sein privat betriebenes Kochrezepteblog kopieren darf, ohne gleich Post vom Abmahnanwalt zu bekommen. Ähnlich ist es mit der Diskussionskultur im Internet. Natürlich ist es ärgerlich, wenn in Heiseforum irgendwelche sozial entkoppelten Denkverweigerer darüber diskutieren, ob Steve Jobs der neue Jesus oder Hitler ist, aber die Antwort kann nicht darin bestehen, dass eine im Wahlkampfrausch befindliche Familienministerin eine Zensurinfrastruktur etabliert, die sich nicht nur gegen allgemein als verwerflich anerkannte Inhalte einsetzen lässt, sondern vor allem geeignet ist, die Blockwartphantasien von SPD und Union eines ordentlichen, eines sauberen, eines handzahmen Netzes wahr werden zu lassen.

Die Kluft geht quer durch alle politischen Lager. Vor allem bei den ehemaligen Volksparteien, aber auch bei Teilen der FDP (falls da noch was zu teilen ist), der Linkspartei und den Grünen herrscht ein Bild vom Internet, das stark von einer Konsumentenhaltung wie bei Radio und Fernsehen geprägt ist. Man hat zwar begriffen, dass man auch irgendwie etwas schreiben kann - Facebook und manchmal auch Twitter sind ein Begriff -, aber als stolze Vertreter des Dichter-und-Denker-Volks erwartet man natürlich Hochliteratur von den Autoren, keine Beschreibung des Stuhlgangs oder der Frühstücksbrötchen. Dass Relevanz im Auge des Betrachters entsteht und dass es tatsächlich Leute gibt, die sich dafür interessieren, in welchem ICE Alvar Freude gerade unterwegs ist, verstehen die selbsternannten Verteidiger der Kultur nicht. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn diese Leute einfach ihre Finger vom Netz ließen. Statt dessen erlassen sie Gesetze, die bei Druckerzeugnissen und Rundfunksendungen noch einen Sinn ergaben, bei einem zeitzonen- und länderübergreifendem Netz aber, in dem die Nachrichten von den Nutzern selbst geschrieben werden, bestenfalls deplatziert wirken, schlimmstenfalls sogar das Funktionieren dieses Netzes gefährden. Die Nerds haben sich das eine Zeitlang angesehen und sich nichts dabei gedacht; zu absurd waren die Ansätze, zu leicht waren sie zu umgehen. Inzwischen aber hat sich die Lage verschärft. Die Vorratsdatenspeicherung ist zwar verboten, wird aber weiter durchgeführt. Die Internetzensur ist zwar als Gesetz vorerst gestoppt, die Infrastruktur ist aber vorhanden und wartet  nur auf einen Vorwand, um eingesetzt zu werden. Datenschutzverstöße sind an der Tagesordnung, und es drängt sich der Verdacht auf, der einzige Grund, dass nicht noch mehr publik wird, liegt darin, dass einige Firmen ihre Pannen besser vertuschen. Den Nerds platzt der Kragen, weswegen sie in die Politik drängen - nicht freiwillig, sondern weil sie keinen anderen Weg sehen, sich gegen die jahrzehntelange Ignoranz der Internetausdrucker zu wehren. Ob die Antwort nun Piratenpartei heißt oder ob die Generation C64 einfach verteilt in die verschiedenen Parteien einsickert und so ihren Themen mehr Gewicht verleiht, wird sich noch zeigen.

Netzpolitik kommt langsam in der gesellschaftlichen Mitte an. Vor 20 Jahren wusste kaum jemand, wer Steve Jobs ist. Heute lösen Gerüchte um seinen Gesundheitszustand Unruhen an der Börse aus und schaffen es bis in die Hauptnachrichten. Wahlsendungen lesen Twitterkommentare vor. Google und Facebook sind immer wieder eine Tagesschaumeldung wert. Das ist auch das Fazit von "Nerd Attack!". Wer wissen will, wie es dazu kam und wie die Netzkultur der Gegenwart aussieht, sollte dieses Buch lesen.

Nerds, die ein bisschen Nabelschau betreiben wollen, kommen natürlich auch auch ihre Kosten.

Chrstian Stöcker, "Nerd Attack! - Eine Geschichte der digitalen Welt vom C64 bis zu Twitter und Facebook", DVA, 15 €

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