Montag, 3. Oktober 2011

Ich erschieße keine Kanzler

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
sehr geehrter Herr Bundespräsident,

um eines klar zu stellen: Hiermit versichere ich Ihnen an Eides statt, dass ich weder Sie, noch irgendein anderes Mitglied der Bundesregierung zu töten gedenke oder jemanden dabei unterstützen werde. Nicht, dass ich besondere Sympathien für Sie hege - das ist beileibe nicht der Fall. Ich habe noch nie eine der Parteien gewählt, aus denen sich die jetzige Koalition zusammensetzt, und eher fault mir die rechte Hand ab, als dass ich jemals diesem spießig-blasierten Verein namens CDU oder der öligen Interessenvertretung der Apotheker und BWL-Studenten namens FDP meine Stimme gebe, aber das heißt nicht, dass ich bereit wäre, Sie zu ermorden. Grund dafür ist allerdings nicht der unglaubliche Verdienst, den Sie sich um dieses Land erworben zu haben meinen, sondern die Tatsache, dass ich als erbitterter Gegner der Todesstrafe mir und allen Menschen das Recht abspreche, andere Menschen zu töten. Darüber hinaus bin ich überzeugt, dass sich durch Ihren Tod nichts ändern wird. In diesem Land wimmelt es nur von Leuten, die davon träumen, an Ihrer Statt den Aufgaben einer Bundesregierung nicht gewachsen zu sein. Warum also sollte ich ein Interesse an Ihrem Ableben haben?

Jetzt also haben Sie es schriftlich: Vor mir brauchen Sie sich nicht zu fürchten. Nachdem wir diese - wie ich finde - Selbstverständlichkeit festgehalten hätten, wüsste ich auch gerne etwas von Ihnen: Wie können Sie die Stirn besitzen, mir zu unterstellen, es wäre anders?

Wovon ich rede? Von Ihrem mit großer Geste angekündigten aber aus meiner Sicht ungebetenen Besuch in meiner Stadt - einer Stadt, in der ich mich bislang frei bewegen durfte, in der ich mein Haus betreten durfte, wann ich es wollte und wo ich in meiner Wohnung anstellen durfte, was ich für richtig hielt, so lange die anderen Mieter sich nicht darüber beschwerten. Nun aber verwandelt sich meine Stadt in ein Gefangenenlager. Es gibt Kontrollpunkte. Ich muss mich ausweisen. Fußgängerunterführungen werden ohne erkennbaren Grund gesperrt, angeblich, um die Besuchermassen zu kanalisieren. Ich weiß nicht, ob Ihre hirnlosen Sicherheitsleute schon einmal am langen Samstag hier waren. Da ist ungefähr doppelt so viel los, und niemand sperrt dafür irgendetwas ab. Nicht einmal ans Fenster meiner Wohnung darf ich treten - nur weil Sie sich hier herumtreiben und ich es offenbar nicht wert bin, Ihr heiliges Antlitz zu schauen.

Im Mittelalter, jener Zeit also, in der Sie und Ihre Partei offenbar weiterhin beheimatet sind, da gab es Herrscher, vor denen man sich zu Boden werfen musste und nicht aufschauen durfte, wenn sie durch die Straßen zogen. Für ein paar Jahre sah es so aus, als hätte sich in dieser Hinsicht etwas geändert. Da setzte die herrschende Kaste auf Volksnähe, genoss das Bad in der Menge. Ab und zu blitzt von dieser Haltung noch etwas auf - bei Wahlen zum Beispiel, den wenigen Anlässen, zu denen Sie den Eindruck erwecken müssen, als hegten Sie Interesse an Ihrem Volk. Kaum aber haben Sie die nötigen Stimmen für Ihre Mehrheit zusammen, zeigen Sie Ihre wahre Haltung. Heiligendamm ist nur ein Beispiel, das herrschaftliche Gepränge zum Tag der deutschen Einheit ein weiteres.

Tag der deutschen Einheit - wissen Sie noch, wie die zustande kam? Damals haben sich Millionen nicht um Ausgangssperren, Polizeikontrollen, Mauern und Zäune geschert. Sie haben eine Regierung gestürzt, die sich in Wandlitz vom Volk abkapselte. Dass Sie genau diesen Tag mit Sperrzäunen, Polizeikontrollen, Scharfschützen und einer vom Volk abgesonderten Regierung begehen werden, zeigt einen Humor, den ich Ihnen offen gesagt nicht zugetraut hätte.

Sie betonen immer wieder, wir befänden uns in einem Rechtsstaat. Was ist das für ein Rechtsstaat, in dem ich damit rechnen muss, dass mir maskierte Menschen die Tür eintreten, weil ich es wage, in meiner eigenen Wohnung ans Fenster zu gehen um zu sehen, wer mir mit einer weit aufgedrehten Lautsprecheranlage die Feiertagsruhe stört? Das werden übrigens Sie sein, wenn Sie Ihre Rede halten.

Bitte verschonen Sie mich mit dem Gequatsche, hier ginge es um die Sicherheit. Ich will diesen Blödsinn nicht mehr hören. Seit zehn Jahren beseitigt eine Allianz aus Sicherheitsfetischisten und Demokratiegegnern unser unter großen Opfern entstandenes System aus Menschen- und Bürgerrechten. Anlässlich Ihres Besuchs heißt es, Ihr Leben sei in Gefahr. Meine Güte, schon seit der Antike kommt es immer wieder vor, dass Regierungsmitglieder umgebracht werden. Das ist schlimm, aber eben auch Teil Ihres Berufs. Offenbar lässt sich das Risiko für Personen des öffentlichen Lebens seit Jahrtausenden nicht auf null senken, und mir stellt sich die Frage, ob der betriebene Aufwand zum Schutz Ihres Lebens in einem Verhältnis zu den hierfür betriebenen Grundrechtsverletzungen steht. Sind die Polizeihundertschaften, die Sie hier aufmarschieren lassen, tatsächlich nur zu Ihrem Schutz da? Lassen sich diese durchtrainierten, gepanzerten und perfekt bewaffneten Einheiten nicht auch großartig dazu nutzen, die Ihnen zujubelnden Volksmassen so zu formen, dass sie eine störungsfreie Kulisse für Ihren Auftritt bilden? Geht es wirklich nur darum, Attentäter fernzuhalten? Wird Ihre Garde der Versuchung widerstehen, Träger von Protestplakaten in Gewahrsam zu nehmen und die Wohnungen von Leuten, die das Anarchie-A ins Fenster hängen, nicht mit einem freundlichen Besuch beehren? Es wäre nicht das erste Mal, dass Sicherheitskräfte bereits jeden als terrorverdächtig einstufen, der optisch nicht ins Bild passt.

Ich kann ja verstehen, dass Sie an Ihrem Leben hängen. Ich kann nachvollziehen, dass Ihr Tod mehr Beachtung fände als beispielsweise meiner und dass man deswegen auch ein wenig Aufwand zu Ihrem Schutz betreiben möchte. Was mich massiv stört, ist das alberne Gepränge, das um ihren Besuch veranstaltet wird, dieses peinliche Zurschaustellen von Macht. Mit Verlaub, Ihr Amt wurde nicht einmal direkt vom Volk bestimmt. Welchen Grund hätte ich, Ihnen mehr Respekt entgegen zu bringen als irgendeinem anderem Menschen?

Die Bewohner Mitteleuropas haben im Verlauf der Jahrhunderte und vieler Kriege die Erfahrung gesammelt, welche Folgen Machtmissbrauch hat, doch statt daraus ein tief sitzendes Misstrauen gegen Hierarchien zu entwickeln, knallt der Preuße immer noch mit den Hacken und nimmt Haltung an, wenn er auf jemanden stößt, der vermeintlich mehr darstellt als er selbst. Wie viel Millionen müssen denn noch verrecken, bis die Menschen merken, dass man Leuten umso mehr auf die Finger schauen und gelegentlich auch hauen muss, je mehr Macht man ihnen zugesteht? Hierarchien sind Konstrukte, um Entscheidungen in großen Gemeinschaften zu beschleunigen. Egal, wie viele Titel jemand trägt, egal, welche Insignien ihn schmücken, er bleibt immer noch ein Mensch und sollte wie einer behandelt werden.

Wie schon gesagt: Ich habe nichts gegen Sie persönlich. Ich unterstelle Ihnen sogar, dass Sie privat ein sehr angenehmer Mensch sind. Wenn Sie Zeit und Lust haben, gucken Sie ruhig einmal bei mir vorbei, und wenn Sie rechtzeitig Bescheid sagen, sorge ich sogar für etwas Leckeres zum Essen. Wir brauchen nicht einmal über Politik zu reden, es gibt viele andere Dinge, über die man sich unterhalten kann. Eins aber muss klar sein: Wir reden als Gleiche miteinander, als freie Bürger dieses Landes. Ihre Aufgabe ist es, das Land zu regieren. Dafür bezahle ich Sie. Ich trachte nicht nach Ihrem Leben, im Gegenteil: Ich füttere Sie sogar durch. Dabei verlange ich nicht mehr von Ihnen, als dass Sie mich nicht wie einen Terrorverdächtigen behandeln. Als Teilnehmer eines Volksfests wären sie mir herzlich willkommen, als abgeschottete Eminenzen sind Sie es nicht.

Wissen Sie übrigens, wen ich gestern fast umgerannt hätte? Den Außenminister, ich meine den echten, den Genscher. Der hat 23 Jahre lang in verschiedenen Ämtern Geschichte geschrieben, zum Teil sogar Weltgeschichte. Mit seinen Entscheidungen hat er sich nicht  nur Freunde geschaffen. Im Lauf der Jahre sammelt sich da schon etwas an. Wissen Sie, wieviele dunkelgrüne, sturmhaubentragende Pistoleros er um sich herum hatte?

Keinen einzigen.