Mittwoch, 26. August 2015

Nacktscanner an Bahnhöfen

Natürlich ist es noch nicht so weit, aber keine Idee ist so idiotisch, dass sie unter Ausnutzung allgemeiner Hysterie nicht doch umgesetzt werden könnte.

Was ist passiert? In einem Thalys-Zug konnte ein Mann daran gehindert werden, wild mit einer Kalaschnikov herumzuschießen. Die Reaktion? Statt einfach mal die Nerven zu behalten und sich zu überlegen, wie oft ähnliche Vorfälle in den letzten Jahren passiert sind, stellen sich die Leute an, als fände so etwas täglich statt, weswegen es ja wohl das Mindeste ist, Polizei im Thalys mitfahren zu lassen. Dass in der angeheizten Stimmung solche Maßnahmen natürlich noch nicht das Ende sind, ist klar, und so werden wieder einmal Ideen herausgekramt, wie man Bahnhöfe mit Personenkontrollen wie am Flughafen ausstattet.

Mit Verlaub, habt ihr sie noch alle?


Wissen Sie, was eine ganz reale Bedrohung ist? Alkoholisierte Halbstarke, die ihrem Freundeskreis beweisen zu müssen meinen, wie toll sie doch sind und deswegen irgendwen suchen, mit dem sie sich anlegen können. Vollidioten, die in einen überfüllten Zug einsteigen wollen, bevor die Anderen augestiegen sind und dadurch wertvolle Zeit verschwenden - die gleichen Vollidioten übrigens, die dann stundenlang nicht begreifen, dass Türen so lange nicht schließen und der Zug nicht abfahren kann, wie sie ihren dämlichen Hintern nicht aus der Lichtschranke bewegt haben. Superwichtige Models, die im vollbesetzten Zug ihr Täschchen auf dem Nachbarsitz, ihren wohnzimmerschrankgroßen Koffer auf dem schräg gegenüberliegenden und ihre Füßchen auf dem direkt gegenüberliegenden Sitz ablegen müssen, somit einen kompletten Vierersitzplatz für sich in Anspruch nehmen. Fußballfans, die den Zug in ein rollendes Tanzlokal mit Pissoir und Ablagefläche für Erbrochenes verwandeln. Karnevalisten, die außerhalb der Fußballsaison den Job der Fußballfans übernehmen. Und natürlich: Verspätungen.

Um ein Gefühl für die Zahlen zu bekommen: Im Fernverkehr kam die Bahn im Jahr 2013 insgesamt 3,78 Millionen Minuten zu spät. Hinzu kamen 12,01 Millionen Minuten im Nahverkehr. Zusammen sind das 15,79 Millionen Minuten. Laut Statistik kommen 94,5 Prozent der Züge pünktlich an. Das heißt: Von den  118,7 Millionen Passagieren im Fernverkehr Jahr 2007 plus 1,1 Milliarden Passagieren im Nahverkehr im Jahr 2005, zusammen also 1,22 Milliarden Menschen, müssen 65,81 Millionen jährlich auf ihre Züge warten. Multipliziert man das mit den Verspätungsminuten, werden kollektiv jedes Jahr 1,04 Millarden Minuten verschwendet, weil die Bahn ihren Zugverkehr nicht im Griff hat. Täglich sind das 2,85 Millionen Minuten oder 5,42 Jahre. Ein achtzigjähriger Mensch lebt ungefähr 42,08 Millionen Minuten. Alle 15 Tage wird also ein Menschenleben Zeit durch Warten vergeudet. Rechnen Sie das einmal gegen die Zahl der Menschen, die in Zügen durch Anschläge sterben. Um solche Werte zu erreichen, müssen sich die Terroristen ganz schön ranhalten.

Let's face it: Risiko gehört zum Leben dazu. Jedes Mal, wenn Sie über eine Ampel gehen, an der ein paar Autos warten, gibt es keine Garantie, dass nicht plötzlich jemand durchdreht und Sie überfährt, und Sie können sicher sein, dass früher oder später jemandem genau das zustoßen wird. Trotzdem kämen nur Vollidioten auf die Idee, Ampeln so zu bauen, dass bei Rot automatisch Sperrzäune ausgefahren werden. Genauso ist es völliger Quatsch, flughafenähnliche Kontrollen an Bahnhöfen zu fordern. Möglicherweise erwischt man damit den einen Kerl, der statistisch gesehen alle Jubeljahre einmal mit einem Bombenkoffer oder einer Schusswaffe in einen Zug steigt, aber der Preis dafür wäre, dass die Bahn als Verkehrsmittel schlicht unbenutzbar wird. Heute löst man zur Not direkt vor Fahrtbeginn eine Karte und steigt in den nächsten Zug. Wenn wir wie an Flughäfen eine Stunde vor Abfahrt am Check-in erscheinen, unser Gepäck und uns selbst durchleuchten lassen müssen, müssen wir eine spontane Fahrt von Berlin nach Hamburg plötzlich genau so langfristig im Voraus planen wie einen Flug. Die Heimfahrt für Millionen Pendler wird dann schnell zum Mitternachstausflug.

Es gab einmal etwas, das nannte sich Vertrauen. Vertrauen darin, dass der Kerl neben mir im Zug nicht zum Maschinengewehr greift. Vetrauen darin, dass ich über eine Ampel gehen kann, ohne dass jemand Amok fährt. Vetrauen von Eltern darin, dass ihre Kinder sich vielleicht gelegentlich irgendwo herumtreiben, wo sie eigentlich nicht sein sollten, aber schon wissen, wo das Verbotene in das Gefährliche übergeht, was man besser bleiben lässt. Vertrauen darin, dass der Partner nicht fremdgeht und man deswegen nicht heimlich in seinen Mails und Telefonkontakten herumschnüffeln muss. Und vor allem: Vertrauen eines Staats darin, dass praktisch alle im Land lebenden Menschen irgendwie miteinander klarkommen wollen und es deswegen keinen Grund gibt, flächendeckend ihre Telefonate mitzuschneiden, ihre Mails zu durchsuchen, ihre Bewegungsprofile abzugleichen, ihr Surfverhalten zu analysieren - kurz: sie wie Terrorverdächtige zu behandeln. Und wissen Sie was? Das hat ganz großartig funktioniert, auch in unsicheren Zeiten. Misstrauen erzeugt Misstrauen, und mit jeder Kamera, mit jeder Eingangskontrolle, mit jedem neu installierten Internetüberwachungsprogramm erzeugt man vielleicht etwas mehr Sicherheit, sendet vor allem aber die Botschaft: Ich habe euch im Auge, Leute, und wenn ihr euch auch nur den geringsten Fehltritt erlaubt, bekomme ich das mit, und dann seid ihr dran.

Das ist keine Vision aus Science-Fiction Dystopien, das ist Realität. Bei jedem Unglück, bei jedem Anschlag führen wir uns auf, als stürmten täglich Heerscharen von Terroristen auf uns ein, als steuerten täglich Piloten absichtlich Flugzeuge gegen Berghänge als explodierte täglich in einem Zug eine Bombe. Die von uns hysterisch geforderten und gegen uns gerichteten Repressionsmaßnahmen kosten mehr Lebensqualität, als wir mit der dadurch vielleicht gewonnene Sicherheit zurückbekommen könnten.

Ist das wirklich das Land, in dem Sie leben wollen?

Samstag, 1. August 2015

Generalbundeszensor

Es ist einfach eine doofe Idee, sich mitten im Sommer mit der Presse anzulegen.

Anders: So viele taktische Fehler wie der Genrealbundesanwalt auf einmal zu begehen, als er gegen Netzpolitik.org ein Ermittlungsverfahren wegen Landesverrats einleitete, zeugt schon fast wieder von Talent.

Erstens der Zeitpunkt: im Sommerloch. Die Zeit, in der Journalisten drei Tage lang darüber berichten, wie die Kanzlerin ein Kind getätschelt hat. Da muss es doch klar sein, dass sie auf so eine Sache aufspringen werden.

Zweitens die Zielgruppe: Journalisten, genau die Leute also, die größtenteils zwar handzahm sind, das aber äußerst ungern vorgehalten bekommen. Wenn man denen - und vor allem denen, die an ihre Arbeit noch einen gewissen ethischen Anspruch erheben - bei einem zwar unangenehmen, im Wesentlichen aber ungefährlichen Artikel die jursitische Keule des Landesverrats überzieht, reagieren sie äußerst empfindlich. Mit solchen Mitteln hält man sich in totalitären Regimes wie Russland und China oder Bananenrepubliken die Presse gefügig, aber in westlichen Demokratien ist man offiziell stolz darauf, dass die Presse mit kritischer Berichterstattung als Korrektiv wirkt. Nun kommt ein Blog an einige Papiere, die als Verschlusssache deklariert sind, also der geringsten Geheimhaltungsstufe, die es überhaupt gibt. Die Klassifzierungskriterien lauten sinngemäß: peinlich, wenn es rauskommt, aber keine Gefährdung des Staatswohls, geschweige denn der Handlungsfähigkeit. Ein souverän agierender Staat hätte sich vielleicht etwas geärgert, aber nicht besonders erschüttern lassen. Aber nein, es muss "Landesverrat" sein. Kleiner ging's nicht.

Drittens die Fehleinschätzung, ein Blog sei kein journalistisches Erzeugnis. Natürlich ist nicht jedes Geschreibsel gleich Journalismus, aber Netzpolitik.org hat die Hobbyliga längst verlassen. Das haben die Kollegen der Süddeutschen, des Spiegels, von ARD und ZDF auch begriffen, und entsprechend fassen sie einen Angriff auf Netzpolitik.org als das auf, was er nun einmal ist: einen Angriff auf die Pressefreiheit.

Viertens der Begriff: Landesverrat. Das ist eine Vokabel, wie wir sie nur aus Spielfilmen kennen. Zuletzt spielte sie in Deutschland während der Spiegel-Affäre Anfang der Sechziger eine Rolle, einer Zeit also, in der die junge Bundesrepublik vom Nationalsozialismus hat Abschied nehmen müssen, aber in der Demokratie noch nicht so recht angekommen war. Regierungen wurden zwar wieder gewählt, galten in den Köpfen aber als quasi gottgesandt. Die kritisiert man nicht, denen folgt man. "Landesverrat", das klingt so wie "Wehrkraftzersetzung" oder "Feigheit vor dem Feind". So etwas ziemt sich nicht für einen anständigen Deutschen.

Genau diese Vokabel zerrt der Generalbundesanwalt also jetzt hervor. "Verrat", so etwas wirft man auch Whistleblowern vor. Seinem Unternehmen, seiner Partei, seinem Land hält man gefälligst Nibelungentreue, egal was die gerade ausfressen. Der Traditionsflügel der SPD benutzt in diesem Zusammenhang das Wort "Solidarität" und rechtfertigt damit die größten Sauereien. Wenn die Partei erst einmal etwas beschlossen hat, dann interessiert es nicht mehr, wie dumm die Idee ist und wie viele Grundüberzeugungen sie verrät. Man hat sich solidarisch zu verhalten, das zählt.

Nun kann der Generalbundesanwalt nichts für das im Strafgesetzbuch verwendete Vokabular, aber dass ihm dieser Straftatbestand ausgerechnet jetzt wieder in den Sinn kommt, ist ein weiterer Beleg für lausiges Timing, und das führt uns zu Punkt fünf.

Fünftens der Zeitpunkt. Etwa drei Wochen ist es her, dass der CCC ein Schreiben des Generalbundesanwalts bekommen hat, in dem dieser erklärt, er sähe keinen Anlass, im BND-NSA-Abhörskandal weiter zu ermitteln; immerhin seien ja seit zwei Jahren gigabyteweise veröffentlichte Belege nichts, womit sich ein Verfahren begründen ließe. Ganz anders sieht es da natürlich aus, wenn so ein paar Blogger sich erdreisten, über das Versagen des Verfassungsschutzes zu berichten. Da muss der Rechtsstaat natürlich volle Härte zeigen.

Genau hier irrt Kristina Schröder, wenn sie behauptet, die Kritik am Generalbundesanwalt sei Beschimpfung der Justiz. Range ist mitnichten "die Justiz". Er ist weisungsgebundener Beamter und dem Bundesjustizministerium unterstellt. Sowohl seine über zwei Jahre andauernde und mit schon fast bemitleidenswert lauen Argumenten verteidigte Arbeitsverweigerung im NSA-Skandal als auch seine plötzliche Agilität, wenn es darum geht, zwei Bloggern das Maul zu stopfen, werden im Zweifelsfall mit dem obersten Dienstherren abgestimmt sein. Beim Landesverratsverfahren wissen wir sogar, dass es mit dem Bundesinnenministerium koordiniert wurde. Umso, sagen wir: überraschender ist es, dass Heiko Maas plötzlich von all dem nicht mehr wissen will, sich von Range distanziert und ihn ungeschützt im Regen stehen lässt. Nun hat die SPD außer Machtgier ohnehin keine Werte, die sie zu verraten nicht bereit wäre, aber normalerweise hat sie wenigstens ein paar Wochen Schamfrist zwischen dem vollmundigen Verkünden einer Position und dem gegenteiligen Handeln. Dass Maas auf einmal sein Herz für Grundrechte entdeckt hat, glaubt ihm nach der Nummer mit der Vorratsdatenspeicherung ohnehin keiner mehr.

Zwar ist Feigheit vor dem Shitstorm kein Zeichen von Charakterstärke, aber irgendwo noch verständlich. Unverständlich sind mir hingegen die Versuche aus der Union, die Aktion des Generalbundesanwalts auch noch zu rechtfertigen. Immer wieder lese ich beispielsweise Äußerungen, das Veröffentlichen geheimer Informationen sei nun einmal eine Straftat und müsse verfolgt werden. Sekunde, heißt das, ich plane einfach irgendeine Sauerei, klebe auf alle belastenden Materialien einen "Geheim"-Aufkleber, und plötzlich darf niemand mehr darüber reden? War Gysis Stasi-Akte nicht auch eigentlich "geheim"? Warum hat das niemanden gehindert, aus ihr zu zitieren? Von anderen, wesentlich brisanteren Geheimdokumenten ganz zu schweigen.

Auch hier merkt man wieder, wie wichtig es wäre, das Phänomen Whistleblowing endlich einmal ausführlich zu diskutieren. Im Wesentlichen herrscht immer noch der Corpsgeist der Kaiserzeit. Kohl darf seit Jahrzehnten unbehelligt die Aussage im CDU-Parteispendenskandal verweigern, weil er sich durch ein "Ehrenwort" gebunden fühlt. Ein deutscher Soldat verrät seine Kameraden nicht - oder wie das heißt. Fragen Sie einmal außerhalb der Nerd-Filterblase, was die Leute von Edward Snowden halten. Viele Leute sehen den Mann in erster Linie als Verräter, nicht als Aufklärer.

Range hat also die Situation komplett falsch eingeschätzt, und die schon fast totgeglaubte netzpolitische Bewegung kommt wieder in Wallung. Wieder einmal hat man den Eindruck, dass sich über lange Zeit Druck aufgebaut hat, bis erneut ein "Das-Maß-ist-voll"-Moment erreicht ist. Wir hatten das schon einmal bei der Vorratsdatenspeicherung und bei der Internetzensur. In beiden Fällen fanden sich praktisch aus dem Nichts einige zigtausend Leute, die nicht bereit waren, die neusten Übergriffe der Regierung weiter zu dulden. In Berlin waren heute - tja, die Zahlen differieren stark - einige hundert, wahrscheinlich aber eher zweitausend Menschen unterwegs, um gegen das Ermittlungsverfahren zu demonstrieren. Bei campact wurde vor wenigen Stunden eine Unterschriftenliste angelegt, und bereits jetzt haben mehr als 68.000 Menschen unterzeichnet. Wir wissen alle, dass Unterschriftenlisten im Netz praktisch wertlos sind, aber dennoch verblüfft die Zahl, die Demonstration in Berlin war zwar nicht wirklich groß, aber bei zwei Tagen Vorlaufzeit schon ganz ordentlich, praktisch alle wichtigen Zeitungen und Nachrichtensendungen sind aufgesprungen, und wir sind noch ganz am Anfang. Mal sehen, was der Sommer uns noch bringt.