Mittwoch, 1. Februar 2017

St. Martin wirds schon richten

Zugegeben, dass in der SPD, der Partei der übergewichtigen Macker jenseits der 50, gelegentlich so etwas wie Reflexionsvermögen aufblitzt, hat mich schon sehr überrascht. Sigmar Gabriel, der Kritik an seiner Arbeit mit einer Ignoranz abperlen lässt, die an Helmut Kohl in seinen besten Jahren erinnert, wirft einen Blick auf katastrophale Umfragewerte, erkennt, dass sich die Leute alles vorstellen können, nur nicht ihn als Kanzler und - tritt beiseite. In einer meisterhaften Rochade schiebt er den möglichen Konkurrenten Steinmeier ins Amt des Bundespräsidenten ab, sich selbst ins Amt des Außenministers und zieht von der Brüsseler Reservebank Martin Schulz heran. Von Schulz weiß man ehrlich gesagt - nichts, außer dass er Europäer ist. Das ist in einer Zeit, in der in Deutschland, Polen, Frankreich, den Niederlanden, Ungarn, Großbritannien, Russland und den USA der Nationalismus trommelt, eine anerkennenswerte Geste. Bei aller Abneigung Gabriel gegenüber: Das zeugt von Können.

Die Republik nimmt's mit Begeisterung. Von massenhaften Neueintritten in die SPD ist die Rede. Die Parteibasis bastelt eifrig Plakate und nimmt mehr oder weniger gekonnte Anleihen am US-Wahlkampf. Slogans wie "MEGA - Make Europe Great Again" deuten auf eine Selbstironie hin, die ich schon seit ewig verschüttet wähnte. Die Frage ist für mich jedoch: reicht das?

Aus einer Jauchegrube wird nicht ein Wellness-Bad, weil der Bauer so ein netter Kerl ist. Die SPD mag noch so sehr darauf verweisen, dass sie vor 80 Jahren einmal Anstand bewiesen hat - das ändert nichts daran, dass sie sich seit Schröder zu einer neoliberalen Klüngelbude wandelte, die weder besonders sozial, noch besonders demokratisch, am allerwenigsten die Arbeiterpartei ist, als die sie ihre Mitglieder gern noch missverstehen. Die SPD hat mit Hartz IV den Sozialstaat faktisch abgebaut und durch einen demütigenden Prozess ersetzt, der Leuten, die jahrzehntelang in das System eingezahlt haben und nun selbst darauf angewiesen sind, Betrugsabsichten unterstellt. Die SPD hat nach den Anschlägen auf das World-Trade-Center ein Bündel Überwachungsgesetze verabschiedet, von einen ein großer Teil vom Bundesverfassungsgericht für ungültig erklärt werden musste. Die SPD hat zweimal mit der Vorratsdatenspeicherung einen anlasslosen Terrorverdacht gegen alle Nutzer elektronischer Kommunikation ausgesprochen. Die SPD hat die Internetzensur eingeführt. Na gut, mögen Sie jetzt sagen, das hätten wir mit der CDU auch bekommen. Stimmt, aber von der CDU haben wir auch nichts Anderes erwartet. Die CDU hätte genau das gewollt. Jetzt erinnern wir uns aber daran, wie die SPD bei der Internetzensur herumgeeiert ist. Wie Heiko Maas herumtönte, mit ihm gäbe es keine Vorratsdatenspeicherung. Wie Ulrich Kelber sich als Datenschützer aufplusterte, nur um kurze Zeit später mit einem hübschen Staatssekretärposten ausgestattet die genau gegenteilige Auffassung zu vertreten. Wie Sigmar Gabriel praktisch jedes negativ konnotierte Ereignis heranzog, um unter kompletter Ausblendung der Realtität zu behaupten, mit der Vorratsdatenspeicherung wäre so etwas nicht passiert. Wir erinnern uns daran, wie die Parteiführung mehrmals scheinheilig zu Mitgliederentscheiden aufrief und den Stimmzetteln Schreiben des Vorstands beilegten, die genaue Instruktionen enthielten, welche Meinung man gefälligst haben soll. Wir erinnern uns, wie auf Parteitagen Delegierten mit Ämterverlust gedroht wurde, wenn sie unerwünschte Meinungen vertreten. Glauben Sie wirklich, diese über Jahrzehnte gepflepflegte Unkultur mausere sich schlagartig zu einer Traumpartei, weil Martin Schulz so freundlich lächelt?

Die SPD hat zu oft ihre eigenen Prinzipien und mein Vertrauen verraten, als dass ich bereit wäre, ihr meine Stimme zu geben, nur weil sie erstmals seit Jahren nicht jemanden an ihre Spitze gestellt hat, den ich für einen kompletten Versager halte. Bis diese Partei für mich auch nur in die Nähe der Wählbarkeit gerät, muss sie schon etwas mehr zu bieten haben als einen sympathischen Spitzenkandidaten.